Mit Umverteilung zu ökologischer Nachhaltigkeit

Prof. Dr. Klaus Dörre zu gesellschaftlicher Ungleichheit und Klimawandel

Werden soziale Ungleichheiten innerhalb nationaler Gesellschaften nicht angegangen, können sie nach Ansicht von Klaus Dörre als gewaltiger Bremsklotz für ökologische Nachhaltigkeitsziele wirken. Wer eine Nachhaltigkeitsrevolution wolle, dürfe Konflikte mit Reichen und Mächtigen nicht fürchten, so der Soziologe.

„Wir befinden uns auf dem ,Highway zur Klimahölle‘ und benötigen eine Nachhaltigkeitsrevolution, um den Weg in den kollektiven Selbstmord noch zu verlassen“, machte Antonio Guterres zu Beginn der jüngsten die Weltklimakonferenz Cop-27 unmissverständlich deutlich. An dieser dramatischen Botschaft des UN-Generalsekretärs gemessen, müssen die Ergebnisse des Zusammentreffens enttäuschen. Selbst wenn alle vereinbarten Maßnahmen zur Bekämpfung des menschengemachten Klimawandels umgesetzt würden, wäre das Ergebnis ein 2,4 Grad Erderhitzungsszenario. 1,5 Grad ist, was der Weltklimarat noch für einigermaßen kontrollierbar hält. Jedes Zehntelgrad darüber könnte dazu beitragen, dass die Folgen des Klimawandels völlig außer Kontrolle geraten. Hält die aktuelle Entwicklung mit weltweiten Rekordwerten für klimaschädliche Emissionen an, haben wir die noch verfügbaren CO2-Budgets 2026 aufgebraucht.

Der Klimawandel ist immer auch eine Frage der sozialen Gerechtigkeit

Warum geschieht so beängstigend wenig, obwohl wir all dies wissen? Jeder Antwortversuch führt zu einer häufig verdrängten Dimension des Problems. Der Klimawandel wie der ökologische Gesellschaftskonflikt insgesamt sind immer auch eine Frage sozialer Gerechtigkeit. Offenkundig variiert der Ausstoß von Treibhausgasemissionen sowohl mit der jeweiligen Platzierung in der sozialen Geografie von Staaten als auch mit der jeweiligen Klassenposition innerhalb nationaler Gesellschaften. Wie eine bahnbrechende Studie von Lucas Chancel dokumentiert, gewinnen innergesellschaftliche Ungleichheiten dabei gegenüber den zwischenstaatlichen Disparitäten kontinuierlich an Bedeutung. Während im Jahr 1990 62 Prozent der Emissionen durch die Ungleichheiten zwischen Ländern verursacht wurden, waren 2019 nahezu zwei Drittel aller Treibhausgaseffekte auf Ungleichheiten innerhalb nationaler Gesellschaften zurückzuführen. Heute emittieren die unteren und mittleren Vermögens- und Einkommensgruppen in Europa und Nordamerika deutlich weniger als die oberen zehn Prozent in Asien, Russland und Lateinamerika. Die Emissionen der ärmeren Bevölkerungshälfte in Europa und Nordamerika sind seit 1990 um mehr als ein Viertel zurückgegangen, während sie in den Entwicklungsländern im gleichen Ausmaß zugenommen haben. Die ein Prozent Reichsten emittierten 2019 26 Prozent mehr als vor 30 Jahren, die reichsten 0,01 Prozent 80 Prozent mehr. Hauptursache sind die Investitionen, nicht der individuelle Konsum. Während das reichste Prozent in Deutschland nichts einsparte, reduzierte die untere Hälfte ihre Emissionen um ein Drittel. Die Produktion von Luxusartikeln für die oberen Klassen und deren Luxuskonsum sind damit auch hierzulande zur Haupttriebkraft eines Klimawandels geworden, unter dessen Folgen national wie global vor allem die ärmeren, sozial besonders verwundbaren Bevölkerungsgruppen zu leiden haben. Nur weil Personen mit „kleinen Geldbörsen“ ihren Gürtel wegen sinkender Einkommen und steigender Preise enger schnallen müssen, werden die verschwenderischen Lebensstile der oberen Klassen im statistischen Mittel unsichtbar gemacht. Werden soziale Ungleichheiten innerhalb nationaler Gesellschaften nicht angegangen, können sie als gewaltiger Bremsklotz für ökologische Nachhaltigkeitsziele wirken. Deshalb ist der Kampf gegen Klimawandel und ökologische Zerstörung stets auch einer zugunsten der Armen und Benachteiligten – national wie global.

Demokratisches Umverteilen ist das Gebot der Stunde

Wer angesichts der katastrophalen Folgen des Klimawandels argumentiert, die soziale Gerechtigkeit müsse hintenanstehen, irrt. Das Gegenteil ist richtig. Ohne soziale Gerechtigkeit ist ökologische Nachhaltigkeit nicht zu haben. Deshalb ist demokratisches Umverteilen das Gebot der Stunde. Auch in reichen Staaten wie der Bundesrepublik darf man den unteren und mittleren Einkommensgruppen nicht mehr zumuten als den Reichen und Superreichen. Umverteilung – von oben nach unten, von den Reichsten zu den Verwundbarsten, von den geografischen Zentren an die (Semi-)Peripherien und von den heute Etablierten an die Angehörigen künftiger Generationen ist ein Schlüssel, auch für ökologische Nachhaltigkeit. Die Besteuerung von Zufallsgewinnen aus der Energiekrise, die in Deutschland nur 33 Prozent betragen soll, während sie selbst in den USA weit darüber liegt, ist hier nur ein erster zaghafter Schritt. Wir benötigen deutlich radikalere Maßnahmen – etwa eine Erbschaftssteuer, die, wie der Ökonom Thomas Piketty vorschlägt, den Besitz großer Vermögen in ein Recht auf Zeit verwandelt. Damit die „kleinen Geldbörsen“ sich künftig nachhaltig produzierte Güter leisten können, müssen ihre Einkommen deutlich steigen – das bedeutet höhere Löhne und weniger Profit für die Konzerne. Und es bedeutet den Bruch mit einem Prinzip, das Teilhabe mit Hilfe von Tiefstpreisen ermöglichen will, die aufgrund von Überausbeutung und Prekarisierung entlang transnationaler Wertschöpfungsketten entstehen. Ein Lieferkettengesetz, welches diesen Namen wirklich verdient und international agierende Unternehmen zur Überwachung von Nachhaltigkeitszielen und Menschenrechten in ihren Wertschöpfungsketten zwingt, wäre ein Ansatzpunkt.

Ein Ende der „billigen Dinge“

Kurzum, was wir dringend benötigen, ist ein Ende der „billigen Dinge“, ein Ende von billiger Natur, billiger Arbeit, billigen Jobs und billiger Sorge. Soziale Nachhaltigkeit bedeutet deshalb auch materielle wie ideelle Aufwertung aller reproduktiven, pflegenden, erziehenden und gesundheitsfördernden Tätigkeiten, die heute vorzugsweise von Frauen und migrantischen Arbeitskräften sowie oftmals in prekärer Beschäftigung verrichtet werden. Ohne den Druck einer – möglichst weltweiten – Bewegung, die demokratisches Umverteilen auf ihre Fahnen schreibt, wird all das nicht zu erreichen sein. Auch wenn das noch nicht zu sehen ist, dürfen erste Schritte nicht auf die lange Bank geschoben werden. Beginnen wir bei uns und dort, wo die Not am größten ist – bei denen, die zu den Tafeln gehen müssen, um sich vor Hunger zu schützen. Noch nie haben die Tafeln so wenig Lebensmittel erhalten wie in der Gegenwart und noch nie war der Andrang so groß. Deshalb gilt: Die Arbeit der Tafeln muss – leider, leider – zu einem offiziellen, mit pädagogischem Personal ausgestatteten sozialpolitischen Instrument werden, das im Übrigen der Verschwendung von Lebensmitteln entgegenwirkt.

Statt Bedürftige gegen Niedriglöhnerinnen und Niedriglöhner auszuspielen, hilft ein sanktionsfreies Bürgergeld, das alle davor schützt, unter die „Schwelle der Respektabilität“ zu fallen und zu Bürgerinnen und Bürgern „zweiter Klasse“ zu werden. Grundsätzlich gilt: Sozial gerecht lebt es sich angstfrei und deshalb für alle besser. Und nur soziale Sicherheit ermöglicht ein Zukunftsbewusstsein, das eine rasche Um- und Durchsetzung ökologischer Nachhaltigkeitsziele möglich macht. Noch hat es die Menschheit in der Hand, den „Highway zur Klimahölle“ zu verlassen. Wer eine Nachhaltigkeitsrevolution will, darf jedoch Konflikte mit jenen Reichen und Mächtigen nicht fürchten, die aufgrund bornierter Interessen an einem unverantwortlichen „Weiter-So“ kleben.

Zur Person

Prof. Klaus Dörre Bildnachweis: Angelika Osthues

Klaus Dörre ist seit 2005 Professor für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und Mitherausgeber des „Berliner Journals für Soziologie“ und des „Global Dialogue“. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Kapitalismusmustheorie, Prekarisierung von Arbeit und Beschäftigung, Arbeitsbeziehungen, soziale Folgen der Digitalisierung sowie Rechtspopulismus.

  • 1.12.2022
  • Red
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