„Wir können dankbar sein“

Zu Erntedank 2022

Wenn die Temperaturen draußen sinken und der erste Bodenfrost kommt, ist der Herbst unmissverständlich da. Im evangelischen Kirchenjahr steuern wir dann auf das Erntedankfest zu. Ein Fest nach der Geschäftigkeit des Sommers, das zum Innehalten einlädt. Ein Fest der Dankbarkeit. Und traditionell ein Tag, der besonders in ländlichen Regionen mit großen Feierlichkeiten begangen wird.

Gemischte Ernte 2022
Wird dies auch in diesem Jahr so sein? Die Erfahrungen von Hitze und Dürre stecken uns noch in den Knochen. Der Anblick des niedrigen Rheines und vertrockneter Wiesen und Maiskolben bleibt vielen Menschen in unserer Region im Gedächtnis. Ist im Hitzejahr 2022, das das Ächzen der Natur unter dem Klimawandel so deutlich spüren ließ, Dankbarkeit angebracht?
Ein Blick in den Erntebericht des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft stimmt da vorsichtig optimistisch: Die Wiesenschnitte für das Tierfutter im Winter und die Maisernte sind zwar dürftig, dafür sind bei Obst, Bio-Gemüse, Getreide und Raps gute Erträge zu verzeichnen, sodass Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir mit der Einschätzung zitiert wird: „Wir können dankbar und teilweise zufrieden sein mit der Ernte.“

Ein großer Dank an die Landwirtinnen und Landwirte
Diese Aussage provoziert die Frage, wem wir für diese Ernte dankbar sein können. Für Cem Özdemir gilt der Dank den Landwirtinnen und Landwirten. Sie haben „[…] dafür gesorgt, dass wir auch in Zeiten multipler Krisen gesundes und hochwertiges Essen auf dem Tisch haben.“ Und dies ist nicht zu unterschätzen, da die Landwirtinnen und Landwirte in diesem Jahr nicht nur den veränderten klimatischen Bedingungen trotzten, sondern auch mit steigenden Energie- und Düngemittelpreisen zu kämpfen hatten. Da ist ein Dank durchaus angebracht.

Gerade wegen der zahlreichen Krisen, die mittlerweile auch im Alltag präsent sind, ist dieses Jahr das Bewusstsein der breiten Bevölkerung für diese Leistung der Landwirtschaft umso größer. So war 2022 der tägliche Blick auf das Wetter, den Boden und den Wasserstand nicht nur für die Landwirtinnen und Landwirte, sondern auch für einen großen Teil der Gesellschaft von großem Interesse. Auch die Annahme, dass unsere Nahrung scheinbar selbstverständlich und dauerhaft verfügbar sei, ist dieses Jahr angesichts leerer Supermarktregale und steigender Lebensmittelpreise endgültig erschüttert. Und mit dem Bewusstsein für die Begrenzung kehrte der wertschätzende Umgang mit Lebensmitteln in viele Haushalte zurück.

Unser täglich Brot gib uns heute
An Erntedank scheint für mich noch eine andere Dimension des Dankes auf. Neben dem Stolz auf die harte Arbeit und die Freude über die eingebrachte Ernte, erinnert mich das Erntedankfest auch stets an eine gewisse Unverfügbarkeit. „Wir pflügen und wir streuen, den Samen auf das Land, doch Wachstum und Gedeihen, steht in des Himmels Hand.“ So heißt es in einem Lied von Matthias Claudius aus dem 18. Jahrhundert, das ein altes Bauernlied aufnimmt.

Von kaum etwas anderem ist die Menschheit so abhängig wie von Nahrung und Ernte – die Diskussionen um die Getreidetransporte aus der Ukraine haben es deutlich vor Augen geführt. Und an keinem anderen Punkt werden wir Jahr um Jahr daran erinnert, dass wir auf etwas angewiesen sind, das wir nicht selbst gestalten können. Nicht ohne Grund ist eine der Bitten im Vaterunser unserer Ernährung gewidmet: „Unser täglich Brot gibt uns heute.“ Trotz begrüßenswerter Erfindungen, die die Wasserknappheit auffangen, oder resistenteren Pflanzenzüchtungen, bleibt ein gewisses „Restrisiko“ der Landwirtschaft; ein Hoffen und Bangen um gute klimatische Bedingungen und eine umso größere Dankbarkeit bei einer reichen Ernte. Auch in dem Zeitalter, in dem der Mensch die Welt gestaltet, gibt es Momente, an denen wir daran erinnert werden, dass wir nicht alles selbst in der Hand haben.

Alle gute Gabe kommt her von Gott
Das Kirchenlied aus dem 18. Jahrhundert nimmt diese Wahrnehmung der Unverfügbarkeit auf und schreibt den Dank für die Ernte Gott zu: „Alle gute Gabe kommt her von Gott dem Herrn, drum dankt ihm und hofft auf ihn.“ Wahrscheinlich macht dieser eingängige Refrain das Lied mit seinem schwungvoll stampfenden Rhythmus zu einem der Klassiker für das Erntedankfest. Bei mir sorgt es regelmäßig für Gänsehaut. Nicht nur wegen der Erinnerungen an geschmückte Altäre voller Getreide, Kürbissen, und Äpfeln, sondern weil mir meine menschliche Begrenztheit und gleichzeitig die Größe Gottes so deutlich vor Augen geführt wird. Und das erzeugt eine tiefe Dankbarkeit gegenüber dem, was ich nicht fassen kann.

Wie das Schöpfungshandeln Gottes ist auch sein alltägliches Wirken an dieser Welt für den Menschen unverfügbar. So erzählt das Erntelied von Gottes Segen in Form von „Tau und Regen und Sonn- und Mondenschein“, der „in unser Feld und Brot“ eingehe und resümiert: „Es geht durch unsre Hände, kommt aber her von Gott.“ Unsere Hände, die Mühen der Landwirtinnen und Landwirte, sind hier ebenso gewürdigt wie Gottes segenreiches Handeln. Wir können dankbar sein.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen ein gesegnetes Erntedankfest 2022!

Dr. Eva-Maria Gummelt, Studienleiterin für den Themenbereich „Ländliche Räume“.

 

 

Den Erntebericht 2022 finden Sie hier.

Die Zitate von Cem Özdemir sind dieser Seite entnommen.

 

 

 

  • 29.9.2022
  • Red
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