Die Wirtschaft als Versorgungssystem sozial-ökologisch einbetten

Dr. Reinhard Loske plädiert für ein neues Verständnis von Wohlstand und Lebensqualität

„Die Herauslösung der Märkte aus der Gesellschaft ist nicht zukunftsfähig“, sagt der Volkswirtschaftler Dr. Reinhard Loske. Als noch schwerwiegenderes Defizit beklagt er die Naturvergessenheit der Ökonomie. Der ehemalige Bremer Senator und Bundestagsabgeordnete sieht die Gesellschaft vor der Frage, wie viel „genug“ ist.

Dass wir schon seit sehr langer Zeit sehr viel über ökologische Krisen und ihre menschgemachten Ursachen wissen, unser wirtschaftliches Handeln aber nur in völlig unzureichender Weise an diesem Wissen ausgerichtet haben, ist eine ebenso unzweifelhafte wie bedrückende Wahrheit.

Es gibt jedoch noch einen anderen Teil der Wahrheit, der Hoffnung machen kann: Parallel zum wachsenden Problem-, Ursachen- und Zusammenhangswissen und parallel zur Verschärfung der ökologischen Krisen ist seit mindestens drei Jahrzehnten auch das praktische Handlungswissen zur Lösung oder mindestens Begrenzung von ökologischen Problemen gewachsen.

Heute wissen wir im Wesentlichen, wie eine abfallfreie Kreislaufwirtschaft, ein emissionsfreies Energiesystem, ein nachhaltiges Mobilitätssystem, eine zukunftsfähige Landnutzung, eine für Mensch und Erde gesunde Ernährungsweise, eine sichere Wasserversorgung, ein ressourcenschlankes und dennoch leistungsfähiges Infrastruktursystem, eine am Gemeinwohl orientierte Finanzwirtschaft und eine „grüne“ Digitalwirtschaft aussehen müssen und können.

Zuversichtliche Experimentierfreude und echte Unternehmungslust

In einer Mischung aus beherztem Politikwandel, Technologiewandel, wirtschaftlichem Strukturwandel, Kulturwandel und nicht zuletzt Lebensstilwandel können diese Ziele zum neuen gesellschaftlichen „Goldstandard“ werden, viele davon schon in der kommenden Dekade.

All das ist kein Hexenwerk, sondern praktisches Tun des Richtigen und Unterlassen des Falschen. Gebraucht werden dafür aber politischer Handlungswille, Wandlungsfähigkeit, Konfliktbereitschaft gegenüber Beharrungskräften sowie ein hohes Maß an zuversichtlicher Experimentierfreude und echter Unternehmungslust.

In welche Richtung muss sich „die Wirtschaft“ entwickeln, um ihr volles Potenzial für eine nachhaltige Zukunft entfalten zu können?

Die Ökonomie wieder in die Gesellschaft einbetten!

Zunächst dies: „Die Wirtschaft“ gibt es nicht. In Wahrheit ist sie äußerst vielfältig, auch wenn man diesen Eindruck beim Blick in die vorherrschenden ökonomischen Lehrbücher kaum vermittelt bekommt. Hier dominieren heute abstrakte und formalisierte Modellwelten, in denen sich Individuen und Unternehmen allein entlang von Kriterien wie Eigennutz, Kosten/Nutzen-Abwägung, Wettbewerb, Rendite, Effizienz und Optimierung bewegen. Von vermeintlichen Werturteilen wird in den Modellen größtmöglicher Abstand gehalten.

Tatsächlich ist die Wirtschaft aber vor allem ein Versorgungssystem, in dem es um Fertig-, Fähig- und Verfügbarkeiten geht, um Bedarfe, Bedürfnisse und Bewusstsein. Sie entsteht im menschlichen Miteinander, nach Regeln, die für alle gelten (sollten). Sie ist keine unabänderbare natürliche Ordnung, sondern kann im Denken und im Handeln von Menschen verändert und an neue Herausforderungen angepasst werden, gerade auch an krisenhafte Zuspitzungen wie wir sie momentan in Sachen Klima, Corona, Krieg, Energie und Inflation erleben.

Noch bis in das späte 19. Jahrhundert hinein wurde die Ökonomie von den führenden Vertretern der Disziplin als Teil der Moralwissenschaft gesehen, in der ethische Prinzipien wie die Bekämpfung von Leid, Hunger, Ungleichheit und Unwissenheit einen ebenso hohen Stellenwert genossen wie wirtschaftlicher Erfolg.

Die Herauslösung der Märkte aus der Gesellschaft ist nicht zukunftsfähig. Sie liegt nicht einmal im Interesse der Unternehmen, die keine reinen Gewinnerwirtschaftungsmaschinen sein können, sondern vor allem Akteure sein müssen, die mit ihren Fähigkeiten erfolgreich zur Erfüllung menschlicher Bedarfe und gesellschaftlicher Herausforderungen beitragen.

Die Ökonomie wieder in die Natur einbetten!

Die Gesellschaftsvergessenheit der Mainstream-Ökonomik und ihr inhärenter Mangel an Realitätstüchtigkeit bei der Erklärung der Welt ist aber nur eines ihrer großen Defizite. Das zweite und im Ergebnis noch schwerwiegendere Defizit ist ihre Naturvergessenheit. Die Natur wird nach wie vor von vielen als unerschöpfliches Rohstofflager gesehen und als verfügbarer Raum für das eigene Expansionsstreben, zugleich als „Deponie“ für Abgase, Abfälle, Abwässer und Abwärme.

Die zahllosen Gratisleistungen der Natur werden als selbstverständlich genommen, als freie Güter, die einfach immer kostenlos da sind, vom bekömmlichen Klima bis zur biologischen Vielfalt, von produktiven Böden bis zur reinen Luft, vom sauberen Wasser bis zu den Bestäubungsleistungen der Insekten – und vielem mehr.

Dass diese lebensdienliche Umwelt aber keineswegs mehr selbstverständlich „gegeben“, sondern durch unser Tun stark gefährdet ist, daran kann heute kein Zweifel mehr bestehen.

Wie aber umgehen mit der uns im „Anthropozän“, der Menschenzeit, zugewachsenen Kraft, die destruktiv wie produktiv, zerstörend wie bewahrend eingesetzt werden kann? Wie den negativen externen Effekten unseres Wirtschaftens auf die natürlichen Lebensgrundlagen ökonomisch angemessen begegnen?  Die eine und alles umfassende Antwort gibt es nicht, aber es gibt Grundorientierungen, die konsequent verfolgt werden müssen:

Politik und Staat müssen klare und wissenschaftlich begründete Umweltziele setzen, kurz-, mittel- und langfristige, nationale, europäische und internationale. Sie müssen – anders als sie es heute im Durchschnitt tun – Kohärenz im eigenen Handeln herstellen, sich also konsequent an den selbst gesteckten Zielen ausrichten. Insofern muss es in der Tat einen wissenschaftlich begründeten Primat der Politik gegenüber ökonomischen Partikularinteressen geben, allerdings ohne seitens des Staates in die Ambition einer technokratischen Mikrosteuerung zu verfallen. Viel wichtiger ist: Das Verfehlen gesellschaftlich vereinbarter und wissenschaftsgestützter Umweltziele darf nicht länger achselzuckend hingenommen, sondern muss sanktioniert werden.

Sozial- und Umweltpflichtigkeit von Eigentum

So wie eine Sozialpflichtigkeit des Eigentums besteht, so muss es in der Verfassung auch eine Umweltpflichtigkeit von Eigentum geben, sei es nun privates, öffentliches oder genossenschaftliches. Eigentum muss zu Verantwortungseigentum werden. Ansonsten hat es keine Zukunft.

Da Preisen im marktwirtschaftlichen System eine wichtige Steuerungsfunktion zukommt, müssen sie auch näherungsweise die ökologische Wahrheit abbilden und dürfen keine Fehlanreize geben. Der Externalisierungspraxis weiter Teile der Wirtschaft, also der Überwälzung von Umweltschäden und -kosten auf die Gesellschaft, die zukünftigen Generationen oder Menschen im globalen Süden, muss durch politisches Handeln ein Riegel vorgeschoben werden.

Zur Wahrheit über die sozial-ökologische Transformation gehört aber auch, dass es um mehr geht als „nur“ technische Effizienzstrategien und den technischen Ersatz fossiler und mineralischer Ressourcen durch (prinzipiell) erneuerbare Ressourcen. Es geht ebenso sehr um die alte Menschheitsfrage nach dem rechten Maß. Ein System, das nur funktioniert, wenn es permanent wächst, ist in hohem Maße störanfällig und verletzbar.

Wir kommen als Gesellschaft nicht um die Frage herum, wie viel genug ist. Dabei ist die notwendige Diskussion nicht zwingend als Verzichtsdebatte zu rahmen. Sie ist vor allem eine Debatte über einzuhaltende planetare Grenzen, Respekt vor der Mitwelt, innergesellschaftliche, internationale und intergenerative Gerechtigkeit sowie ein zeitgemäßes Verständnis von Wohlstand und Lebensqualität. 

Zur Person

Foto: Wikimedia Commons https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Porträt_Reinhard_Loske_2021.jpg
Dr. Reinhard Loske

Dr. Reinhard Loske ist Mitglied im Vorstand der Stockholmer Right Livelihood Foundation, die jährlich den „Alternativen Nobelpreis“ vergibt. Zuvor war er unter anderem Präsident der Cusanus Hochschule für Gesellschaftsgestaltung in Rheinland-Pfalz, Professor für Nachhaltigkeit und Transformationsdynamik an der Universität Witten/Herdecke, Senator für Umwelt, Bau, Verkehr und Europa der Freien Hansestadt Bremen und Abgeordneter des Deutschen Bundestages.

 

 

 

 

  • 15.12.2022
  • Red
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