Chaos in Russland

Was folgt nach der erstaunlichen Eintagesrevolte des Yevgeni Prigoschin?

Jörgen Klußmann

Die überraschte Weltöffentlichkeit rieb sich am Wochenende die Augen und fragte sich: Was ist in Russland los? Auch Jörgen Klußmann, Studienleiter bei der Evangelischen Akademie im Rheinland, versucht, die Lage zu sondieren. Seine Prognose: Putin wird den Krieg gegen die Ukraine nun noch unbarmherziger führen.

Am vergangenen Samstag, den 24.6., hörten wir in den Morgen-Nachrichten schier Unglaubliches! Der Chef der größten russischen Söldnergruppe, Yewgeni Prigoschin hatte eine Revolte begonnen und seine Privatarmee Richtung Moskau in Gang gesetzt. Angeblich hatte es zuvor einen Angriff der regulären russischen Streitkräfte auf die Söldnergruppe Wagner gegeben und nun befand sie sich auf einem „Marsch der Gerechtigkeit“ in die Hauptstadt, um den verantwortlichen Verteidigungsminister Schoigu dafür zur Rechenschaft zu ziehen. Bereits zu diesem Zeitpunkt hatte Prigoschin das Hauptquartier der russischen Streitkräfte für die Ukraine in Rostow am Don besetzt und auch 300 Kilometer weiter nördlich in Woronesch Truppen in Gang gesetzt.

Kurze Zeit später meldete sich ein sichtlich erregter Präsident Putin in einer Fernsehansprache zu Wort, um den verdutzten russischen Bürgerinnen und Bürgern mitzuteilen, dass es sich um Verrat handele und dass der Staat alles unternehme, um die Verantwortlichen und alle, die daran beteiligt seien, zur Rechenschaft gezogen würden. Die Lage schien sich immer weiter zuzuspitzen und Bilder von Kampfhandlungen schienen dieses Bild noch zu untermauern. Während die Weltöffentlichkeit noch darüber spekulierte, welche Auswirkungen der Coup auf den russischen Staat, den Präsidenten und vor allem auf den Krieg in der Ukraine haben würde, verhandelte der belarussische Präsident Lukaschenko, Moskaus derzeitiger engster Verbündeter aber bereits hinter den Kulissen mit Prigoschin.

Großes Geheimnis
Am späten Nachmittag dann die nächste Überraschung, der Chef der Söldnergruppe Wagner hatte angeblich eingelenkt und seine Truppen angewiesen, umzukehren und die besetzten Gebiete aufzugeben. Prigoschin sei auf dem Weg nach Belarus, der Präsident habe ihm sein Wort gegeben, dass er für seine Revolte straffrei bleibe und auch die beteiligten Truppen würden ebenfalls nicht belangt. Alles wieder in Ordnung, nichts ist passiert oder wie Prigoschin es ausdrückte, „es wurde kein Blut vergossen“. Die überraschte Weltöffentlichkeit rieb sich die Augen und fragte sich, was ist da los? Vermutlich wird dies wohl ein großes Geheimnis bleiben.

Doch eins hat die ganze Posse doch deutlich gemacht: Es herrscht Chaos in Russland! Darüber kann auch der vermeintlich glimpfliche Ausgang dieses Putschversuchs oder Coups oder was auch immer es war, nicht hinwegtäuschen. Schon in den vergangenen Wochen hatte sich der Konflikt zwischen dem russischen Generalstab und dem Verteidigungsminister auf der einen Seite und Prigoschin auf der anderen Seite immer weiter zugespitzt. Letzterer hatte in den sozialen Medien mit immer drastischeren Worten die Armeeführung persönlich angegriffen. Sein Statement am Morgen der Revolte setzte noch eins drauf und warf den Generälen vor, dass sie die Öffentlichkeit über den Krieg in der Ukraine mit Absicht täuschten und dass Russland diesen Krieg ohne Not begonnen habe.

Prigoschins Zukunft ist unklar
Doch hinter der Auseinandersetzung zwischen der Söldnergruppe und der Armeeführung steckte wohl mehr als nur die Unzufriedenheit Prigoschins mit der mangelhaften Versorgung mit Munition und Unterstützung durch die Armee. Der ehemalige Vertraute Putins, der es schaffte vom „Koch“ zum mächtigsten Chef aller Söldnergruppen Russlands aufzusteigen, hatte sich wohl auch Hoffnungen auf größeren politischen Einfluss im russischen Machtpoker gemacht. Ohne Unterstützung weiterer einflussreicher Kräfte hätte er diesen Machtkampf sicher nicht gewagt. Doch hat er sich dabei wohl verspekuliert, denn die Geschwindigkeit, mit der er seine Ambitionen aufgeben musste, war spektakulär. Erkennbare Unterstützung gab es von keiner Seite für ihn. Sein Rückzug geschah sang- und klanglos – welches Schicksal ihn erwartet ist unklar. Denn wieviel die Zusicherung der Straffreiheit unter diesen Umständen wert ist, wird sich noch zeigen.

Für Putin und den gesamten Staatsapparat wird dieses Kapitel sicher ebenfalls noch ein Nachspiel haben. Er ist nun gewarnt, dass innerhalb seiner Autokratie noch ganz andere Kräfte wirken, die ihn und sein System aushebeln könnten. Die offizielle Staatspropaganda, die Entwarnung gegeben hat und so tut, als ob nichts geschehen sei, kann auch nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zugegangen ist. Die Verunsicherung darüber, wie es in Russland und im Krieg weiter geht, ist im russischen Volk ganz sicher durch die Ereignisse gewachsen. Doch eines ist ganz klar: Putin wird diese Herausforderung nicht vergessen und er wird dafür Köpfe rollen lassen, denn er muss nun noch mehr beweisen, dass er über die nötige Führungsstärke verfügt, um die Zügel weiter in der Hand zu halten. Den Krieg in der Ukraine aber wird er nun vermutlich noch unbarmherziger führen.

Abdruck mit freundlicher Genehmigung von https://www.zeitzeichen.net

Der Artikel wurde am 26.06.2023 hier veröffentlicht.

 

  • 28.6.2023
  • Red
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